Sonntag, 10. Juni 2007

Der Rochen

Die äußere Kante des rechten Pedals war abgebrochen. Sie vergaß das manchmal. Dann rutschte sie während der Fahrt gefährlich ab. Heute radelte sie konzentriert die Praterstraße entlang. Sie rutschte nicht ab. Wie jeden Tag überquerte sie den Donaukanal. Wie jeden Tag stellte sie sich vor, er sei eine Bucht. Schwer vorstellbar. Eine Bucht. Die neue Bar auf Sand machte die Vorstellung nicht einfacher. Bald würde der Sommer kommen und sie würde am Meer sein.

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Zehn Minuten später betrat sie das Büro. Guten Morgen Kora, sagte Franz. Er erhob seinen Blick nicht vom Bildschirm. Franz erhob seinen Blick seit Koras zweitem Tag nicht vom Bildschirm. Am Tag ihres Kennenlernens war er dazu gezwungen. Beate, die Chefin stellte sie vor. Das ist Kora. Kora hatte nur einmal seine Augen gesehen. Sie wollte nach seiner Augenfarbe fragen. Bei ihrem Kennenlernen war sie darauf konzentriert ihren Namen zu sagen. Nun konnte sie sich nicht an seine Augen erinnern. Peinlich war ihr das.
Sie zögerte das Aufheben der Rufumleitung hinaus. Wie jeden Tag. Als sie ihrem Anschluss mitteilte, sie sei da, begann er sofort zu klingeln. So auch heute. Die Wohnung in der Beatrixgasse war bereits vergeben, sagte sie. Sie passte sowieso nicht zu dem Anrufer. Sie wusste das. Außerdem hatte sie keine Lust sie ihm zu zeigen. Sie konnte nicht jedem jede Wohnung zeigen. Also weiter E-Mails beantworten. Zeittotschlagstrategien anwenden. Inserate schalten. Kurz angebunden sein. Termine vereinbaren. Termine absagen. Um elf Uhr dreißig erster Außentermin. Überteuerte Altbauwohnung im sechzehnten Bezirk. Trotzdem begehrt.
Beim Mittagessen mit Eva wachte sie auf. Das Gespräch war nicht spannend aber echt. Eva hatte Pläne. Weg aus der Stadt wollte sie. In den Süden, wo das Leben freier war. Das Meer war es. Der Bausparvertrag der Eltern auch. Nun sollte es losgehen. Kora wünschte Glück. Sie versprach zu schreiben. Kora dachte, in zwei Monaten bist du wieder da. So würde es kommen. Sie wusste das.
Fünf Stunden noch. Ab sechzehn Uhr ließ sie den Minutenzeiger nicht mehr aus den Augen. Es war heiß im Büro. Der Sommer kam. Hört das auf? Heute unterbrach sie es durch einen Ausflug auf die Kärntnerstraße. Konsum hilft. Noch lange.
Eine Wohnung hatte sie in dieser Woche vermietet. Sie war zufrieden. Was nächste Woche kam? Wer weiß das schon. Beim Nachhauseradeln dachte sie nicht ans Meer. Sie war frei. Zu Hause, Spaghetti und Donnerstagskrimi. Heute nicht ausgehen. Sie brauchte ihre Energie. Lieber Wochenendpläne schmieden. Sich in Gedanken alles ausmalen. Früh schlafen gehen.
Guten Morgen Kora, sagte Franz. Er hob seinen Kopf nicht. Kannst du einen Termin übernehmen? Das war neu. Er war ihr Konkurrent. Warum nicht. Eine Besichtigung in der Heinestraße. Heute? Ja, heute. Um sechzehn Uhr. Fahr früher hin. Finde heraus, ob in der Wohnung alles in Ordnung ist. Er sah nicht auf. Wurde nach diesem Termin unterschrieben, war das ihr Vertrag. Er wusste das.
Sie hatte heute eine gute Laune. Sie hob gleich die Rufumleitung auf. An einem Freitag kann nicht viel passieren. Die Woche war zu Ende. Am späten Vormittag in die Beatrixgasse fahren. Besichtigende in die Wohnung lassen. Sie werden es sich überlegen. Mittagessen mit Karin. Karin war die Sekretärin. Kora aß gerne mit ihr zu Mittag. Sie musste dann fast nichts reden. Das war eine angenehme Abwechslung. Karin wollte im Sommer in die Karibik fliegen. Sie liebte das Meer. Sie brauchte einmal pro Jahr das Meer. Sonst konnte sie es nicht aushalten. Das Leben. Als Sekretärin in einem Immobilienbüro beschäftigt sein. Kora fuhr direkt in die Heinestraße. Franz’ Anweisungen befolgend. Alles noch einmal überprüfen. Kein Risiko eingehen. Die Wohnung lag im dritten Stock. Das Stiegenhaus war schäbig. Die Wohnung war hell und gut geschnitten, wie sie sagten. Vorzimmer in Ordnung. Keine Möbel. In keinem der Zimmer standen Möbel. Selbst die Küche war leer. Das war gut. Viele Menschen wollten nichts. Die Tür zu einem Zimmer war verschlossen. Es musste das Bad sein. Kora versuchte das Schloss mit einer Münze zu öffnen. Es gelang ihr nicht. Sie brauchte einen Schraubenzieher. Sie hatte keinen, sie hatte einen großen Schlüsselbund. Mit einem der Schlüssel gelang es ihr, die Tür zu öffnen. Es war das Bad. Eine große Badewanne. Sie sah sich um. In der Wanne war Wasser. Und in der Wanne war ein Fisch. Es war ein Rochen. Sie kannte Rochen. Sie hatte sie im Haus des Meeres gesehen.

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Ein Rochen alleine in der Wohnung zurückgelassen. Die Besichtigenden würden bald da sein. In zehn Minuten musste sie die Wohnung präsentieren. Wohin mit dem Fisch? Das Bad wieder zusperren. Wer unterschreibt ohne Bad? Ohne Bad keine Unterschrift, das wusste sie. Den Fisch töten. Sie musste den Rochen töten. Sie hatte schon oft gesehen wie ein Fisch getötet wird. Im Fernsehen. Sie musste ihn mit aller Kraft gegen die Wannenkante schlagen. Sie musste seinen Hinterkopf mit aller Kraft gegen die Wannenkante schlagen. Was wenn er spritzt? Blutet ein Rochen? Das ging nicht. In fünf Minuten musste das Bad sauber sein. Jetzt war es sauber. Sie durfte nichts machen was die Sauberkeit gefährdete. Kora brauchte einen Sack. Einen großen Plastiksack, am besten einen Müllsack. Die Wohnung war leer. Es gab keinen Müllsack. Sie klingelte bei der Nachbarin. Es sei ihr sehr unangenehm, aber sie bräuchte einen Müllsack. Die Wohnung sollte neu vermietet werden, aber es sei noch Müll da. So konnte sie keine neuen Mieter finden. Sie brauchte unbedingt einen Müllsack. Einen großen, bitte. Sechzig Liter hatte die Nachbarin. Ausgezeichnet. Der Rochen würde sich freuen. Die Besichtigenden waren noch nicht eingetroffen. Sie war froh über ihre Verspätung. Sie füllte Wasser in den Müllsack. Er war dicht. Sie wollte den Rochen nicht berühren. Sie schaffte es ihn zusammen mit dem Wasser in den Sack zu füllen. Er zappelte fast nicht. Kora musste ihn nicht berühren. Sie war beruhigt. Sie knöpfte den Sack zu. Nicht zu fest zuziehen. Sie stellte den Sack hinter die Tür.
Es klingelte. Kora sprach in den Hörer der Gegensprechanlage. Herzlich Willkommen! Bitte nehmen Sie den Lift in den dritten Stock. Sie führte das Ehepaar durch die Wohnung. Die Frau suchte Fehler. Sie fand keine. Gut, dass alles so leer ist. Kora stimmte zu. Das Ehepaar konnte seine persönliche Note einbringen. Das klang gut in den Ohren der Frau. Sie konnte ihre persönliche Note einbringen. Kora war keine Anfängerin. Auch das Bad. Jede Silikonfuge wurde unter die Lupe genommen. Das Ehepaar wunderte sich nicht über die Wasserreste in der Badewanne. Trotzdem war Kora nervös. Würde ihr der Rochen den Abschluss verderben? Der Rochen blieb ruhig. Das Ehepaar verlangte nach vielen Informationen. Kora erklärte alles. Natürlich mussten sie nicht sofort den Vertrag unterschreiben. Nein, das wäre unseriös. Sie sollten sich zumindest zwei Tage Zeit nehmen. Alles überdenken. Es sah gut aus. Kora hatte in den letzten Jahren ein Gefühl dafür entwickelt. Sie verabschiedeten sich. Kora und der Rochen hatten die Besichtigung überstanden. Kora war dem Rochen dankbar. Sie musste zurück ins Büro. Sollte sie den Fisch mitnehmen? Er würde sonst sterben. Oder wieder in die Badewanne geben? War Salzwasser in der Wanne bevor sie es ausgelassen hat? Ein Rochen brauchte doch Salzwasser. Der Sack war viel zu schwer. Sie musste den Wohnungsschlüssel zurückgeben. Es war schon spät. Sie beobachtete den Sekundenzeiger. Der Sommer würde bald kommen.
Kora brauchte einen kleineren Sack. Sie hatte nicht viel Platz auf ihrem Fahrrad. Sie klingelte wieder bei der Nachbarin. Der Sack sei schon voll. Haben Sie noch einen zweiten Müllsack für mich? Einen kleineren? Die Nachbarin hatte einen dreißig Liter Sack. Ausgezeichnet. Kora füllte den Rochen um. Sie schaffte es wieder, ihn nicht zu berühren. Der Sack war stark. Er würde halten. Der Rochen zappelte und wand sich. Er lebte noch. Ihr Fahrrad stand in der nächsten Gasse. Sie stellte es immer in einiger Entfernung ab. Die Besichtigenden mochten keine Rad fahrenden Immobilienmaklerinnen. Kora legte den Sack in den Korb an ihrer Lenkstange. Er hatte Platz. Sie fuhr sehr vorsichtig. Das Meer war nicht weit weg. Sie kannte die Strecke. Einfach die Praterstraße entlang. Dann über die Bucht und hinter der Urania runter zum Strand. Es war schon spät. Es waren nicht mehr viele Leute am Strand und noch keine Nachtschwärmer unterwegs. Der Zeitpunkt war gut. Kora nahm den Sack aus ihrem Korb. Der Wasserstand war schon etwas gestiegen. Aber sie musste noch warten. Der Rochen bewegte langsam seinen Köper. Wie eine Welle. Es ging ihm gut. Sie berührte ihn durch den Plastiksack. Sie spürte seine Haut. Er fühlte sich angenehm kühl an. Das Wasser stieg weiter und weiter. Es überspülte langsam den Strand. Kora saß neben dem geöffneten Sack am Boden. Sie betrachtete den Rochen. Er war schön. Als sie vom Wasser erreicht wurden, ließ sie den Rochen aus seinem Sack. Er schwamm langsam davon. Kora war am Meer. Der Sommer war da.

A.W.

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Kathrins und Antonias Montagskino Tagebuch 2007

Montag, 8.1.2007 MÜLLERS BÜRO (Niki List, 1986) Ein österreichisches Film Noir Musical (??), das uns trotz des damals erstaunlich attraktiven Andreas Vitasek nicht überzeugen konnte. Immerhin weiß ich nun wer für Hits wie "Männer sind wie Marzipan" verantwortlich ist. Montag, 15.1.2007 POPULÄRMUSIK AUS VITTULA

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